Wieviel Heimat braucht der Mensch im globalen Dorf?
Ist Heimat aber nicht auch etwas was gesucht, ausprobiert, gefunden und entdeckt werden will, wenn die Lebensumstände es erfordern? Was spricht dagegen seine Werte an dem neuen Ort, wo man Arbeit hat, sich verwirklichen kann und seine Kinder aufwachsen sieht, wo das Leben Sinngebung erfährt, zu leben? Kommt es am Ende nicht vornehmlich darauf an, dass man seinen eigenen Weg gegangen ist und nicht wie viel Strecke zurückgelegt wurde?
Heute ist fast jeder Zehnte in der Bundesrepublik ausländischer Herkunft. Sie alle suchten Arbeit und brachten einen Teil ihrer Heimat mit, denn auch sie brauchten Geborgenheit gegen den eisigen Wind in der Fremde. Haben Menschen die zu uns kommen wollen ein geringeres Recht hier ihr Glück zu suchen, als es jene Millionen armselige aus Deutschland hatten, die in Bremerhaven einst an Bord der Schiffe gingen, um in den USA noch einmal von vorn zu beginnen?
Heimatlos – bedeutet das nun zu viel oder zu wenig Heimat zu haben? Wie verwurzelt kann ein Mensch im Zeitalter der Globalisierung überhaupt noch sein? Selbst in den Dörfern Lautertals gibt es DIE Heimat längst nicht mehr sondern viele Heimaten.
Gerade in einer Gemeinde wie Lautertal die auf Zuzug angewiesen ist muss sich die Zivilgesellschaft mit der Frage auseinandersetzen, ob die Integrationsaufgabe weiterhin ausschliesslich denen auferlegt werden kann die kommen, oder ob diejenigen die hier bereits leben stärker in die Pflicht genommen werden müssen, selbst um den Preis einen Teil der gewohnten ‚Heimat‘ zu verlieren. Verlust bedeutet hierbei nicht selbst verdrängt zu werden und weggehen zu müssen, sondern etwas Vorhandenes, Vertrautes sich verwandeln und auflösen zu sehen, und es am Ende vielleicht sogar nicht mehr wiedererkennen zu können.
Es scheint etwas in der menschlichen Natur zu geben, dass sich den permanenten Einflüssen von aussen widersetzen möchte, denn Lautertal reagiert zuverlässig sehr empfindlich auf Veränderungsimpulse. Die Tatsache, dass Menschen geboren werden und sterben, Häuser abgerissen/gebaut und Bäche begradigt/renaturiert, angesehene Betriebe geschlossen und andere eröffnet und (mit hoher Wahrscheinlichkeit) Windparks gebaut werden kann von der Lautertaler Heimatverteidigung zwar ignoriert – aber nicht verhindert – werden, denn die meisten Veränderungen finden ausserhalb ihres Einflussbereichs statt.
Heimat fordert eine Art von Stillstand die es selbst in den Dörfern Lautertals nicht gibt, denn das Leben erzwingt so oder so den Wechsel. Auf seinem Lebensweg muss sich jeder kontinuierlich mit der Frage auseinandersetzen, welche Traditionen er in seinem persönlichen Rucksack weiterhin mitnehmen möchte und was nicht lebensnotwendig ist. Wer an sich den Anspruch stellt von der Wiege bis zur Bahre alle Traditionen seiner Ahnen mitzuschleppen degradiert sich selbst zu einem Ausstellungsstück im Museumsdorf. Deswegen ist jede Heimat, kaum dass sie neu definiert wurde, immer auch schon ein Stück weit verlorene Heimat, denn die Inventurzyklen im Traditionsrucksack werden immer schneller.
Hat der, der ‚Heimat‘ sucht und in Lautertal ankommt, zu sich selbst und seinen Möglichkeiten gefunden, dann wird etwas entstehen in der Gesellschaft. Eine Heimat, in der „Türken Türken und Taubenzüchter Taubenzüchter und Lesben Lesben bleiben können und friedlich miteinander leben“, um nebenbei ein neues, übergreifendes Wir-Gefühl zu entwickeln. Ein Lautertaler Wir-Gefühl in dem sich Nostalgie und Utopie zu einem imaginären Ort formen: ohne Zeit, ohne Geschichte, ohne Gemeinheit, Bosheit und Niedertracht.